auf unseren Inselspaziergängen fühlen wir uns jetzt von freundlichen Kommunal- und Landespolitikern beobachtet. Damit man sich ein Bild von den Landtagskandidaten machen kann, hat man ihre Konterfeis an Masten und Bäumen aufgehängt, wo sie jetzt vertrauensvoll nicht nur auf unser Land, sondern auch auf uns herunterschauen. In dieser Haltung möchten sie zum Ausdruck bringen, dass wir ihnen bei der Landtagswahl ruhig etwas ankreuzen können.
Doch ihr freundliches Lächeln vom Wahlplakat täuscht über die Sorgen hinweg, die sie sich in diesen Tagen vor der Wahl um sich und unser Land machen. Sie wissen, dass es mutige und verantwortungsvolle Menschen braucht, die die Kraft und den Glauben haben, so ein Land regieren zu können. Ihr Glaubensbekenntnis und das ihrer Partei erhalten wir frei Haus in Hochglanz-Faltblättern. Der Weg zum Erfolg ist darin aufgezeichnet: Es ist ein Weg der Stärke, aber auch ein Weg der Menschlichkeit, der uns ins gelobte Land führen soll. Und weil die Politiker selbst meist zu bescheiden sind, haben Werbefachleute die herausragendsten Eigenschaften für uns extra hervorgehoben, damit wir diese bis zur Wahl noch einmal nachlesen können.
Ja, Tante Annemie, es ist schon erstaunlich, wie sich vielbeschäftigte Politiker – sonst keinen Abend zu Hause – vor der Wahl an ihre Familie erinnern und sich für das Partei-Werbeblatt sogar mit ihren Enkeln ablichten lassen. Da kann es schon sein, dass der Landesvater, eben noch im neuen Gewerbezentrum die Technik preisend, gleich darauf leibhaftig im Stall des kleinen Milchbauern erscheint und der Kuh Resi über den Kopf streichelt.
Und so steigt auch die Kommunalpolitikerin werbewirksam in den „Seehas“, denn „es geht vorwärts – aber bitte ökologisch!“ Dabei vergisst die Betriebsratsvorsitzende eines bedeutenden mittelständischen Unternehmens am Bodensee für einen Moment, dass sie ihren Arbeitsplatz mit der Bahn gar nicht erreichen kann, und dass das bedeutende Unternehmen ohne privaten Bus- und PKW-Verkehr vieler zahlender Besucher nicht existieren könnte.
Da zeigt ein Landtagskandidat sein Programm „Bodensee 2000“, das die Region wettbewerbsfähig machen soll, aber bitte ökologisch und nicht so heftig wie im „Stuttgarter Raum“, dennoch mit gesicherten Arbeitsplätzen, mit einer soliden Werbung für die Region, trotzdem mit einem sehr sanften Verkehrsaufkommen und einem noch sanfteren Tourismus.
Ja, liebe Tante Annemie, machen wir uns also am Wahlsonntag auf den Weg und machen wir unser Kreuz. Es erfüllt uns nicht mit Begeisterung, aber wir haben keine andere Wahl.

Sei lieb gegrüßt von Deinem Neffen Dieter

Veröffentlicht 1996

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