Das neue Bett

Eines Tages geschah es, dass ein Einwohner einer kleinen Gemeinde der Verwaltung die Idee vortrug, dem Dorfbach ein neues Bett zu geben. Lag es doch an die dreihundert Jahre zurück, seit sich der Bach zum ersten Mal darin ergoss, um fortan still und friedlich durch das Dorf zu fließen. Auf diese Anregung hin machten sich einige Gemeinderäte auf, um das Bett des Baches in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich zeigte es sich, genau betrachtet, nicht besonders attraktiv, vielmehr ungepflegt und eng.
Zwar wurden Stimmen laut, dem Bach sein altes Bett zu lassen, war seinem Gurgeln und Plätschern doch zu entnehmen, dass er sich wohlfühlte. Auch hatte er es nie gewagt, über seine Ufer zu treten, geschweige denn sich so zu schwellen, dass die Gefahr bestand, in wilden Strudeln mitgerissen zu werden. In seinen Wassern spielten die Kinder, und deren Großväter saßen im Schatten der alten Weiden. So könnte es bleiben.
Lobenswerterweise aber war der überwiegende Teil der Einwohner der Ansicht, dem Bach ein frisches Bett zu machen, sodass die Gemeindeverwaltung zur Tat schreiten konnte. Sie beauftragte eine Firma in Oberbayern, die sich mit der Herstellung eines neuen Bettes für den Dorfbach beschäftigen sollte. Dieses Unternehmen hatte sich auf den Bettenbau von Bächen und Flüssen spezialisiert und nicht selten aus einem Rinnsal, das durch einen Ort rann, ein rauschendes Flüsschen geschaffen.
Diese Firma überzeugte schon bei der Einrichtung der Baustelle. Sieben kraftvolle Bagger, neun potente Planierraupen, allesamt hochtechnische Schürfgeräte, bauten sich wie Urtiere vor dem Bächlein auf und ließen auch die letzten Zweifler verstummen. Nun wurde das alte, schmächtige Bachbett zuerst einmal kräftig ausgehoben, um nach den neuesten Erkenntnissen der Gewässerforschung dem Bach eine akzeptable Fließgeschwindigkeit zu ermöglichen. Die Tiefe erlaubte es nun auch, das Bett auf beiden Seiten um acht Meter zu verbreitern, eine sinnvolle Breite, um eine ausbaufähige und vorbildliche Ufervegetation anzulegen.
Dabei ließ es sich allerdings nicht vermeiden, dass es mit einigen uneinsichtigen Bürgern zu heftigen Auseinandersetzungen kam, da ihre Kleingartenanlagen entfernt werden mussten. Doch hohe Ablösesummen und kräftige Gebühren an Rechtsanwälte waren nicht vergebens. Wo einst der Verkehr und lärmendes Schaffen dem Bach und seinem Bett arg zugesetzt hatten, entstanden bald herrliche Feuchtgebiete und Tümpel. Alle Grünanlagen des Ortes sowie private Gärten konnten nach einer beispielhaften Flurbereinigung diesem neuen Naturgebiet zugeschlagen und mit diesem vernetzt werden.
Bald durfte man von einem Biotop sprechen, das von Flora und Fauna gleichermaßen mit einer Mannigfaltigkeit besiedelt wurde, dass es sich wie von selbst ergab, dieses Naturschutzgebiet in besonderem Maße zu schützen. Nun galt es fern des Dorfbaches ein neues Straßen- und Wegenetz zu entwerfen, um die Einwohner, die vorübergehend als Nord- und Südbächler getrennt waren, durch beeindruckende Brücken und Unterführungen wieder zu verbinden. Hier zeigte sich einmal mehr, dass auch Beton, wenn er mit einem guten Gespür für Landschaftsarchitektur verbaut wird, sich wie selbstverständlich in die Natur einfügt. Was in diesem Dorf geschaffen wurde, hatte alle Erwartungen übertroffen.
Immer mehr seltene Vögel auf ihrem Flug in den Süden ließen sich gerne in diesem Paradies nieder. Was sogar Fachleute in Staunen versetzte, war die Beobachtung, dass auch Enten und Schwäne die neugeschaffenen Grünbrücken nutzten. Da auch immer mehr seltene Tiere wie der nachtblaue Nachtschreck oder der langohrige Tomatenfrosch hier ein Domizil fanden, kam es zu einem Beschluss der Landesregierung, diesen Ort autofrei zu halten.
Handwerksbetriebe schlossen, da der Maschinenlärm sensiblen Wasserbrütern wie etwa dem Kreuzbrusthüpfer oder dem Teichplätscher nicht mehr zugemutet werden konnte. Lautes Hupen oder das Knattern eines Mopeds hätten mit Sicherheit wohl auch den Moosgrammler sowie den Schilfbrunzer vertrieben. Besonderes furchtsam zeigte sich der Weidendäumling, der wegen seiner Schüchternheit auch nie gesehen wurde.
Deshalb war es für jeden selbstverständlich, dass Straßenfeste, öffentliche Sportveranstaltungen sowie Musikdarbietungen untersagt wurden. Kinder und Jugendliche durften den Spielplatz und das Freibad im Nachbardorf mitbenutzen, was dankend angenommen wurde.
Es konnte auch nur in aller Stille gefeiert werden, als der erste Befürworter des neuen Bachbettes geehrt und mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet wurde. „Wenn Einwohner eines Ortes mit ihrem guten Willen vorangehen“, so der Laudator, „dann können Planer auch Vorschläge und Ideen eines einzelnen Bürgers zum Wohle aller verwirklichen. Dass wir heute inmitten eines Naturschutzgebietes wohnen können, ist unserem Bürger Damian Strähl zu verdanken.“ Der Geehrte zeigte sich sichtlich gerührt. „Sein Erfolg“, erklärte er, „hätte ihn auch ermutigt, einer kleinen Inselgemeinde im Bodensee seine Hilfe für ihre Ortsgestaltung anzubieten. Er hätte auch schon…“
Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

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2 Kommentare

  1. Dieter Beck

    Liebe Inge, Dein Lob freut mich ganz besonders. Herzlichen Dank!

  2. Inge Werner

    Es ist eine große Kunst, einen Text so zu formulieren, dass alles gesagt ist!!!!

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