Vom Wein und der Wahrheit

Es ist ein später Nachmittag, an einem Freitag, und wir befinden uns im Verkaufsraum des Winzervereins. Schwere Balken an den Decken, altehrwürdige Mauern und Bögen, Rudimente aus Klosterzeiten, alles erst in den letzten Jahren wieder restauriert, frisch verputzt und gestrichen. Die Weinpräsentation ist nicht überladen, an der Theke darf man Wein verkosten, der Keller lädt zum Suchen, Finden und Verweilen ein.
Willi Armbruster, der bewährte Gästeführer, hat eine kleine Gruppe von Landfrauen aus Ochsenhausen empfangen, sie herzlich begrüßt und ihnen versprochen, die Kultur des Weines in schlüssiger wie auch die Weinsorten in flüssiger Form nahezubringen. Kellermeister Anton Säumle ist voll des Lobes, wie souverän der Armbruster Willi das immer wieder gestaltet.
Susi Vögele-Berg, die Verkaufsleiterin, hat einige Flaschen entkorkt, Gläser bereitgestellt und schenkt schon einmal ein. Man wird sehen, was den Damen schmeckt. Dazu gibt es Brezeln und belegte Brötchen.
Der Willi hat die Damen bereits in Augenschein genommen, alles reife Mädchen, wenn er das mal sagen darf, und der Willi darf das sagen, denn er meint es nicht geringschätzig. Im Gegenteil, er hat Erfahrung, weiß was die Frauen wollen; mal ein paar Stunden Spaß, etwas verschnaufen, nur nicht so viel Ernstes, das haben sie daheim.
Nach dem ersten Anstoßen mit einem Müller-Thurgau sagt man „Du“ zueinander. Alle haben kurz etwas von sich erzählt, und der Willi stellt jetzt die Weine vor, die hier angebaut werden. Und es sind einige, darunter ein Gutedel, ein Grauburgunder und ein Spätburgunder. Willi erklärt, woher die Sorten kommen, sagt etwas über die Süße und die Säure. Die Mädels wollen alles gar nicht so genau wissen. Es ist auch zu viel, was sie hören, von der Neuzüchtung, die Kerner heißt, und vom Muskateller, einer Rebe, die schon Noah mit in die Arche genommen und nach der Sintflut wieder angepflanzt haben soll. Die Frauen von Ochsenhausen nicken höflich und wissen gar nicht mehr, welche Sorten sie schon probiert haben, bekommen rote Bäckchen, eine hitzige Stirn und müssen viel schnattern.
Jetzt ist es an der Zeit, etwas von der Klostergeschichte zu erzählen, und der Willi fragt in die Runde: „Wisst ihr eigentlich, dass sich hier eine große Liebesgeschichte abgespielt hat, genau wo ihr jetzt steht?“ Er macht eine Pause und schaut hinüber, wo die Susi hinter dem Tresen leicht errötet. Sie hat hier vor ein paar Monaten ihren jetzigen Verlobten kennengelernt.
„Es war ein Schicksal, das auch in die Klostergeschichte eingegangen ist.“ Jetzt ist die Susi wieder erleichtert, sie ist demnach nicht gemeint.
„Rudibert, der damalige Kellermeister des Klosters, verliebte sich in Gunhilde, eine Tochter aus dem schwäbischen Geschlecht der Grafen von Gammertingen. Es war schon Spätsommer, ein schöner Tag, so schreibt der Chronist, als Graf Beowulf von Gammertingen dem Kloster einen Besuch abstattete. Er brachte auch seine Tochter mit, die sich aber nur im Klosterhof aufhalten durfte, wo alle bewirtet wurden. Aber wenn zwei Menschen sich finden, sich zueinander hingezogen fühlen, gell, dann kann es auch in einem Klosterhof passieren.“
„Willi, du kannst so schön erzählen“, seufzt die Paula.
„Als Rudibert, der als Mundschenk diente, Gunhilde zum ersten Mal sah, ihr den Becher mit Wein reichte, war er wie vom Blitz getroffen. Ich muss auch hier wieder den Chronisten bemühen, denn schöner könnte auch ich es nicht sagen: Auch Gunhilde errötete beim Anblick des schönen, starken Mannes, ihr Blick senkte sich artig und, als sie den Becher entgegennahm, zitterte ihre Hand so heftig, dass sich ein Teil des Weines in ihren Schoß ergoss.“
„Was gab es doch früher für begnadete Erzähler“, begeistert sich Elvira, rieslingtrunken.
Willi Armbruster hat anscheinend das richtige Thema getroffen. Er erzählt den Mädels noch ausführlich und mit viel Fantasie, wie die Liebenden sich noch einige Male heimlich trafen, aber keine Zukunft miteinander fanden. Es war eine verhängnisvolle Liebe, das kann man sich denken, ein Klosterbruder und eine angehende Gräfin, die ohnehin schon versprochen war.
„Dass man den Mann nicht bekommen kann, den man eigentlich will, das kenne ich“, sagt die Elfriede. Sie schaut wehmütig in ihren Riesling, als ob dieser sie trösten könnte. Die Paula streicht ihr verständnisvoll über den Rücken: „Oh, Elfriede, ich verstehe dich nur zu gut.“ Die anderen stehen betroffen daneben. Jetzt merkt auch die Susi, dass die Stimmung kippt. „Darf ich noch einmal nachschenken? Wir haben auch noch belegte…“
„Brötchen, da nehme ich doch gerne eins.“ Wie auf ein Stichwort beim Theater taucht Pater Ambrosius unerwartet an der Theke auf und greift zu.
„Was sagen Sie denn zu der unglücklichen Liebschaft, Pater?“ will die Gerlinde wissen.
„Ich habe nichts von einer unglücklichen Liebe erfahren.“ Dem Pater wird auch ein Glas angeboten, die Sorte ist der Susi bekannt.
„Gell, Sie wollen darüber nicht reden, sie unterliegen ja dem Schweigegelübde.“
„Sonst würde ich nie mehr zum Beichten gehen“, erklärt die Josefa und bekommt dabei einen hochroten Kopf.
Jetzt schaltet sich Willi Armbruster ins Gespräch ein: „Was soll denn der Quatsch mit der Schweigepflicht? Dass der Kellermeister eine Liebschaft hatte, das war doch allgemein bekannt.“
„Aber für mich wäre doch wichtig, was Pater Ambrosius darüber denkt. Muss man in der Liebe nicht auch verzichten?“ möchte Elfriede wissen.
Pater Ambrosius nimmt noch einen kräftigen Schluck und wie zufällig schaut er der Elfriede ins Dekolleté: „Wir sind alle Sünder, Elfriede, und dürfen über andere kein Urteil sprechen. Wenn der Anton Säumle gesündigt hat, wird er sich allein vor dem Allmächtigen verantworten müssen.“
Seitdem macht Willi Armbruster einen weiten Bogen um den Winzerkeller.

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2 Kommentare

  1. Inge Werner

    Ein großes Kompliment zur Köstlichkeit des Schreibens. Eine Geschichte aus dem Leben mit einem unvorhersehbaren Schlussakkord!!
    Bitte weiter so.

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